Schlagwort: Zweitspracherwerb
GAL-Tagungsbericht zum Thema „Herkunftssprachlicher Unterricht”
Sektionentagung der Gesellschaft für angewandte Linguistik (GAL) 2019, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg – Sektion „Migrationslinguistik“
Von Till Woerfel
Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU) ist eines der Mittel, Mehrsprachigkeit in der Schule zu berücksichtigen: ein Mittel zur Nutzung sprachlicher Bildungsressourcen sowie ein Zeichen der Anerkennung von Mehrsprachigkeit. Wenngleich HSU gegenwärtig wieder verstärkt in das Bildungswesen einbezogen wird, ist er regelmäßig Gegenstand von Debatten zwischen Politik, Wissenschaft, Schulen, Konsulaten, Vereinen und Lehrkräften. Gleichzeitig gehört er zu den meistdiskutierten Themen in der Migrationslinguistik: Gewinnen SchülerInnen etwas, wenn ihre familiären Herkunftssprachen in das Bildungswesen integriert werden? Kann HSU den regelmäßig in Schulleistungsstudien attestierten Bildungsrückständen von SchülerInnen mit familiärem Migrationshintergrund entgegenwirken? Gewinnt die Bildungsbilanz Deutschlands sprachliche „Bildungsreserven“ durch die Implementierung von HSU? – und wenn ja: was?
Die Forschung zum HSU entwickelt sich im deutschsprachigen Raum erfreulicherweise mit einiger Beschleunigung. Im Rahmen der Sektionentagung der Gesellschaft für angewandte Linguistik (GAL), die am 18.-20.9.2019 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg stattfand, widmete sich die Sektion Migrationslinguistik (Prof. Christoph Schroeder, Dr. Peter Rosenberg, in Zusammenarbeit mit Dr. Till Woerfel) dieser Thematik aus wissenschaftlicher und in einem abschließenden Round Table aus bildungspolitischer bzw. -praktischer Perspektive.
In sechs Vorträgen und drei Postern wurden Einzelprojekte und Überblicksstudien zu verschiedenen Themen vorgestellt.
Vernetzung des HSU mit dem Fachunterricht: Christine Enzenbach und Dr. Erkan Gürsoy (Essen, Vortrag 1) und Dr. Işıl Uluam-Wegmann (Essen, Poster) stellten Ergebnisse aus den interdisziplinären Forschungsprojekten SchriFT I und II vor. Die zentralen Ergebnisse zeigen, dass Textsortenfähigkeiten und allgemeinsprachliche Fähigkeiten bei bilingualen deutsch-türkischen SchülerInnen miteinander vernetzt sind.
Darüber hinaus konnte ein Zusammenhang von Adressatenorientierung/Kohärenzherstellung und Textqualität auch im Türkischen der SchülerInnen nachgewiesen werden. Vorläufige Ergebnisse der im Rahmen von SchriFT II durchgeführten Interventionsstudie (Unterrichtsreihe zu einem textsortenbasierten Lehr-Lern-Zyklus) zeigen einen signifikanten Lernzuwachs. Adressatenorientierung und Kohärenzherstellung scheinen sich somit für eine koordinierte Förderung im HSU Türkisch und im Fachunterricht zu eignen.
Einfluss von HSU und Sprachgebrauch: Prof. Dr. Elke Montanari (Hildesheim, Vortrag 2) stellte Ergebnisse aus einem Projekt zum mehrsprachigen Lexikonerwerb vor und ging der Frage nach, wie diese in den Kontext des Gebrauchs der Herkunftssprache im Handlungsbereich Schule/Unterricht gesetzt werden können. Ergebnisse der Studie zeigen, dass der Besuch des Russisch-HSU zu einem größeren Wortschatzzuwachs führt. Im Vergleich dazu zeigen sich bei den türkisch-deutschen SchülerInnen kaum Unterschiede im Türkischen, unabhängig davon, ob sie den Türkisch-HSU besuchen oder nicht. Wenn man den elterlichen Input berücksichtigt, scheint aber das Gebrauchsmuster der Eltern einen Einfluss zu haben: SchülerInnen haben einen größeren Wortschatz im Russischen bzw. im Türkischen, wenn ihre Eltern zu Hause beide Russisch oder beide Türkisch sprechen, aber auch dann, wenn ein Elternteil Türkisch und ein Elternteil Deutsch spricht. Esra Hack-Cengizal (Frankfurt/Main, Poster)zeigte wiederum, dass im Rahmen ihrer Pilotstudie „Mehrsprachiges Lesen und Wortschatz“ durchgeführte zusätzliche Leseeinheiten in der Herkunftssprache Türkisch den Wortschatzzuwachs im Türkischen nicht signifikant beeinflussen (was womöglich auf die kurze Interventionsdauer zurückzuführen ist); Kinder in der Stichprobe zeigten durch die Nutzung eines zweisprachigen (Lese-)Mediums aber eine gesteigerte Motivation zum Selbstlesen in der Herkunftssprache.
Ressourcenorientierte Didaktik: Prof. Dr. Grit Mehlhorn (Leipzig, Vortrag 3) stellte Ergebnisse des BMBF-Verbundprojekts SMED vor, in dem u. a. binnendifferenzierendes Arbeiten im Russischunterricht untersucht wird, der sich an Fremd- und Herkunftssprachenlernende (HSL) gleichermaßen richtet. Die zur Binnendifferenzierung eingesetzte ressourcenorientierte Didaktik beinhaltete u. a. i) Hilfe zur Bewältigung von Aufgaben, ii) anspruchsvolle Übungen, iii) Übungen für HerkunftssprecherInnen. Zudem arbeiteten SchülerInnen gemeinsam an einem Problem bzw. an einem Text, was sehr gut angenommen wurde. Die Ergebnisse aus der Aktionsforschung zeigen, dass Fremd- und HSL unterschiedliche Voraussetzungen und Lernbedürfnisse haben. So ist das sprachliche Wissen der HSL stark mündlich geprägt und sie besitzen ein implizites, unbewusstes Sprachwissen. Im Vergleich zu Fremdsprachlernenden stellt sie die Orthografie des Russischen vor Herausforderungen. Christine Renker (Bamberg, Poster) stellte didaktisch-methodische Ideen zur Binnendifferenzierung im Fremdsprachenunterricht mit L2 -Lernenden und HerkunftssprecherInnen vor. Ein besonderer Fokus des Projekts liegt auf der Übertragung von Erkenntnissen der bisherigen Herkunftssprachen-Forschung zur zweiten Generation auf die erste Generation der „neuen“ Herkunftssprachen (z. B. Tigrinya, Albanisch, Urdu, Somali, Paschtu, Tschetschenisch).
Lehrwerke: Prof. Dr.Zeynep Kalkavan-Aydın (Freiburg, Vortrag 4) gab anhand im Rahmen des Projekts LiMU (Lernen im Muttersprachlichen Unterricht Türkisch) durchgeführten Lehrwerksuntersuchungen Einblicke, wie Schreibkompetenz in aktuellen Lehrwerken für den muttersprachlichen Zusatzunterricht Türkisch aufgebaut bzw. gefördert wird. Schreibstrategien werden interessanterweise im Lehrplan Türkisch (Ankara 2018, Konsulat Karlsruhe) nicht eingeführt, sondern in den Zielformulierungen als abgeschlossen definiert. Die Analyse zeigt, dass Kooperationen / Kollaborationen ausschließlich in Form von Partnerarbeit zu finden sind (z. B. gibt es keine Schreibkonferenzen), auch entsprechen Schreibprofile nicht den DaZ-/ Deutschdidaktik-Überlegungen im engeren Sinne. Hier stellte sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, inwiefern Operatoren im HSU mit dem Deutschunterricht koordiniert werden und wie in der jeweiligen Herkunftssprache äquivalente Gebrauchsformen vorkommen können.
Einstellungen von Eltern zum HSU: Prof. Dr. Drorit Lengyel und Prof. Dr. Ursula Neumann (Hamburg, Vortrag 5) stellten die erste große empirische Studie zum HSU aus Elternsicht („HUBE-Studie“) vor, in der 3110 Eltern von Herkunftssprachen-SprecherInnen der 10 häufigsten im Hamburg vertretenen Sprachen befragt wurden. Dabei präsentierten sie einige neue Erkenntnisse: viele Kinder der Befragten besuchen keinen HSU, was meistens am fehlenden Angebot der deutschen Schulen liegt. Besonders sind hier GymnasialschülerInnen, denn HSU findet in Stadtteilschulen zu 48%, aber im Gymnasium nur zu 12% statt. Eltern müssen dann auf Angebote von religiösen Einrichtungen oder Vereinen zurückgreifen; im Russisch-HSU spielen im Vergleich zu den anderen Sprachen die Gemeinden und Vereine eine größere Rolle.
Die Eltern stehen – unabhängig vom eigenen Bildungshintergrund – dem HSU insgesamt aufgeschlossen gegenüber (vor allem, wenn/weil ihre Kinder Lesen und Schreiben lernen) und wünschen sich überwiegend, dass der Unterricht an deutschen Schulen stattfindet. Die Elternwünsche unterscheiden sich z. B. zwischen Türkisch und Polnisch, aber nicht zwischen Türkisch und Russisch.
Herkunftssprachen an Universitäten: In ihrem Vortrag stellte Dr. Helena Olfert (Münster, Vortrag 6) eine Explorationsstudie vor, die dem Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit an universitären Sprachenzentren nachgeht. Sie wies darauf hin, dass an Universitäten Herkunftssprachen an Bedeutung gewinnen; der HSU sich unterscheidet sich im universitären Kontext vom Fremdsprachenunterricht, dass hier an familiär erworbenem Sprachwissen angeknüpft und vergessenes Wissen reaktiviert wird. Hier stehen vor allem der Ausbau von Kompetenzen und der Abbau von Sprachscham, vor allem für berufliche Zwecke, im Vordergrund. Lehrkräfte sehen besondere Herausforderungen im unterschiedlichen Sprachstand der Studierenden, besonders im Verhältnis mündlicher und schriftlicher Sprachkompetenzen.
Round Table: Was nützt und wie geht herkunftssprachlicher Unterricht (zukünftig)? Eine Diskussion zwischen Wissenschaft, Bildungsverwaltung und Praxis.
Die Sektion schloss mit einer Diskussion zwischen Wissenschaft, Bildungsverwaltung und Praxis. Auf dem Podium diskutierten Anna Fabian (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Brandenburg, Projektreferentin im Programm Muttersprachlicher Unterricht), Prof. Dr. Grit Mehlhorn (Universität Leipzig) und María José Sánchez Oroquieta (Bezirksregierung Köln, Fachberaterin Dezernat 41 Arbeitsstelle Migration) den Status quo sowie Zukunftsperspektiven des HSU. Dr. Till Woerfel (Mercator-Institut, Universität zu Köln) moderierte den Round Table und ließ dabei gesammelte Fragen aus der Sektion sowie aus dem Plenum einfließen.
Organisationsformen und Umgang mit individueller Mehrsprachigkeit in Brandenburg und NRW: Zunächst gaben Anna Fabian und María José Sánchez Oroquieta Einblicke in Organisationsformen und Umgang mit individueller Mehrsprachigkeit in Brandenburg und NRW, wo der HSU vom Land (NRW) bzw. von einem freien Träger im Auftrag und in enger Abstimmung mit dem Land (Brandenburg) angeboten wird. Unterschiede zeigen sich hier besonders bezüglich der Curricula, der Anzahl der angebotenen Sprachen, der koordinierenden Angebote (z.B. KOALA) und der Benotung (versetzungsrelevant oder nicht). Insgesamt besteht eine große Notwendigkeit HSU-Lehrkräfte mehr und besser mit anderen Lehrkräften und Schulleitungen zu vernetzen bzw. sie zu LehrerInnenkonferenzen einzuladen.
Brandenburg | Nordrhein-Westfalen (NRW) | |
Organisation | ||
seit Ende der 1990er wird das Programm “Muttersprachlicher Unterricht” von den RAA Brandenburg (freier Träger) im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (MBJS) des Landes Brandenburg umgesetzt und ist gesetzlich verankert; es gibt kein Curriculum (bewusste Entscheidung wegen der großen Heterogenität in Bezug auf Sprache und Alter), Orientierung am Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 Berlin-Brandenburg und an Lehrplänen des HSU in anderen Bundesländern;Mindestzahl 12 SchülerInnen;aktuell 114 Lerngruppen (wachsend), die von ca. 80 Lehrkräften auf Honorarbasis unterrichtet werden;als freiwilliges Förderangebot, organisatorisch meist als schulisches Ganztagsangebot / als AG verankert / keine Noten, Zertifikat v. RAA Brandenburg in Abstimmung mit dem MBJS, Teilnahme soll von der Schule im Zeugnis vermerkt werden;Möglichkeit besteht, z. B. zum Abschluss der 10. Klasse eine Sprachfeststellungsprüfung abzulegen, dadurch kann eine Fremdsprache im Zeugnis ersetzt werden;grundsätzliche Herausforderung ist die besonders starke Heterogenität bei jahrgangsübergreifenden Gruppen;Mindestzahl stellt Problem für kleinere Sprachgruppen dar; z. T. auch problematisch Lehrkräfte zu finden (z. B. Kurdisch, Tschetschenisch), u. a. liegt dies aber auch am Aufenthaltsstatus der potentiellen Lehrkräfte;RAA Brandenburg ist für die Auswahl und Einführung der neuen Lehrkräfte verantwortlich und bietet jedes Jahr fachliche Fortbildungen an (besonders nachgefragt aktuell: Differenzierung und Medieneinsatz). | wird seit den 1980er Jahren vom Land organisiert und ist durch einen Erlass gesetzlich verankert;Ein Lehrplan aus dem Jahr 2000 für die Klassen 1 bis 4 und 5 und 6; ein Kernlehrplan aus dem Jahr 2006 für die Klassen 7 bis 10;Mindestzahl 15 SchülerInnen, Sek I: 18 SchülerInnen;bei kleineren Sprachen (z.B. Twi) werden bei Bedarfsanfragen an das Schulamt zunächst Kapazitäten geklärt und der Unterricht und die Nachfrage anschließend pilotiert, um eine mögliche Etablierung der Sprache zu prüfen;Aktuell besuchen landesweit ca. 98.000 SchülerInnen in 6.000 Lerngruppen und werden von 845 LK in den Klassen 1 bis 10 unterrichtet;aktuell 20 Sprachen (nun auch: Koreanisch, Vietnamesisch, Arabisch, Twi);HSU auch als 2./3. Fremdsprache wählbar (findet aktuell nur in einer Gesamtschule in Köln bis zum Abitur statt);Am Ende des HSU-Besuchs gibt es in Klasse 9 bzw. 10 eine Sprachprüfung, deren Ergebnis im Abschlusszeugnis bescheinigt wird; bei der Vergabe der Abschlüsse kann eine mindestens gute Leistung in der Sprachprüfung eine mangelhafte Leistung in einer Fremdsprache ausgleichen;Die Auswahl der Lehrkräfte geschieht durch das Schulamt; in den Bezirksregierungen findet die Fortbildung „Herkunftssprachenlehrkräfte an Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I“ statt. Eine Teilnahme an der Fortbildung ist verbindlich für alle Lehrkräfte, die nicht im Besitz eines Lehramtes nach NRW-Recht sind;Kurmanci-Lehrkräfte in NRW zu finden, die die Qualifikationsvoraussetzungen erfüllen (s. u.) ist weniger schwierig; aktuell in zwei Varianten: Kurdisch-Kurmanci und Kurdisch-Sorani. Die von fachkundigen Lehrkräften erteilt werden;Fachliche Fortbildungen finden in den jeweiligen Bezirksregierungen statt. | |
Qualifikation der Lehrkräfte | ||
Bedingungen: Unterrichtssprache ist auch L1 der Lehrkraft, pädagogisch-didaktische Qualifikation;Idealerweise sprachbezogene Lehrqualifikation und mehrjährige Berufserfahrung, eine deutsche Lehramtsqualifikation (mit 2 Fächern) muss nicht vorhanden sein;(aktuell haben 75% der Honorarkräfte eine Lehrqualifikation). | Lehramt oder Magister im Herkunftsland; Mindestanforderung: mind. Lehramt in anderer Sprache (C1-Niveau), aber flexibel;Zielsetzung durch das 2007 initiierte “Netzwerk Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte” HSU-Lehrkräfte zu gewinnen hat bisher nicht funktioniert. | |
Kooperation HSU-Lehrkräfte – Regellehrkräfte | ||
RAA Brandenburg stimmt mit der Schule mind. eine zentrale Ansprechperson für die HSU-Lehrkraft ab (meist Schulleitung);Vernetzung mit anderen Lehrkräften (v.a. Sprachlehrer/innen) und mit Schulsozialarbeit wird angeregt, damit Austausch stattfindet und um schulische Ressourcen (z. B. Unterrichtsmaterialien wie Bildkarten) für den HSU zu nutzen, damit eine Parallelisierung stattfinden kann;Insgesamt ist die Kooperation und der Austausch mit weiteren Regelkräften grundsätzlich weiter ausbaufähig. | Das Konzept„Koordinierte zweisprachige Alphabetisierung im Anfangsunterricht” (KOALA) (s. weiterführend die Evaluation von Reich 2016) gibt es schon seit Ende der 90er Jahren; es unterrichten ca. 30 Grundschulen im Regierungsbezirk Köln in den Sprachenkombination Deutsch/Arabisch, Deutsch/Griechisch, Deutsch/Italienisch, Deutsch/Russisch und Deutsch/Türkisch sowie im Regierungsbezirk Arnsberg in Deutsch/Türkisch;Prinzipien des KOALA-Konzeptes sind: Gemeinsame Vor-und Nachbereitung des Unterrichts, Teamteaching, kontrastive Spracharbeit, zusätzlich 3h HSU;Bilinguales Lernen findet auch als Vernetzung des Regel- mit dem HSU im Primarbereich statt: in Bezirks-regierungen Arnsberg und Düsseldorf jeweils an einer Grundschule in der Sprachenkombination Deutsch-Italienisch und in der Stadt Köln an 7 Grundschulen mit den Sprachen-kombinationen Deutsch/Englisch, Deutsch/Französisch, Deutsch/Italienisch, Deutsch/Spanisch und Deutsch/Türkisch; außerhalb von KOALA besteht die Notwendigkeit, die HSU-Lehrkräfte zu integrieren; Desintegration der HSU-Lehrkräfte zeigt sich z. B. schon dadurch, dass sie nicht zu wichtigen Lehrer- bzw. pädagogischen Konferenzen eingeladen und somit nicht über mögliche Entwicklungen oder Änderungen im Bildungsbereich informiert werden;nur wenige Schulen in NRW würdigen in der Realität die Mehrsprachigkeit, obgleich das Thema in Erlässen, Lehrplänen und Curricula steht. |
Im zweiten thematischen Block ging es um Perspektiven und Utopien des HSU und die Frage, ob die heutige Form des herkunftssprachlichen Unterrichts ein Auslaufmodell ist.
Zur Idee, den HSU Türkisch für alle Fremdsprachenlernende zu öffnen (vgl. Küppers & Schroeder 2017), entgegnete Grit Mehlhorn, dass dies zwar eine Möglichkeit für größere Herkunftssprachen darstelle, aber eben nicht für kleinere Sprachen (z.B. Tschetschenisch), weil u. U. zu wenig SchülerInnen vorhanden sind. Ideal wäre vielmehr das Modell der Europa-Schulen am Beispiel Berlin (vgl. weiterführend Möller et al. 2018): Die Herkunftssprachen sind in diesem Modell versetzungs- und abschlussrelevant (somit auch anerkannt) und werden in einer hohen Stundenzahl kontinuierlich (als obligatorische 2. Fremdsprache) unterrichtet. Sie sind somit nachhaltiger als Nachmittagsunterricht. Zudem findet dort bilingualer Sach-Fach-Unterricht statt, d. h. hier kann sich die Herkunftssprache auch als Bildungssprache entwickeln, da sie in verschiedenen Fächern Anwendung findet. In den Europaschulen wird zudem unterschieden zwischen Partnersprachenklassen (Fremdsprachenlernende und schwache Herkunftssprachenlernende) und Muttersprachenklassen (mit höherer Kompetenz, Schulbildung teilweise bereits im Herkunftsland).
Für HSU-Lehrkräfte sah sie eine Zwei-Fächer-Qualifikation als erstrebenswert, denn nur dann wird es eine Integration ins Kollegium geben, weil die Vernetzung mit anderen Lehrerkräften bzw. Fächern stattfindet. Hierfür seien zudem gute Deutschkompetenzen notwendig, um Sprachvergleiche anzustellen. Das Gesamtsprachencurriculum von Hufeisen (2011) gelte weiterhin als Zielperspektive, um Herkunftssprachen im Sprachcurriculum zu verankern. Die Diskussion ging anschließend um die Ausbildungskapazitäten an Universitäten als möglicher Schlüssel für Qualifikation und Vernetzung. Grit Mehlhorn nannte die Russisch-, Polnisch-, Tschechischlehrkräfteausbildung an der Universität Leipzig als Beispiel einer hoffnungsvollen Entwicklung in der Lehrerbildung (RU: nur Sekundarstufe); es wurde bemängelt, dass außer des Lehramtsstudiengangs für Türkisch an der Universität Duisburg-Essen (auch nur Sekundarstufe I+II) keine spezifische HSU-Lehrerbildung in Deutschland gebe und vor allem der Primarbereich völlig unberücksichtigt bleibt.
Grundsätzlich handele es sich hier aber um eine politische Frage, die die KMK thematisieren müsste, und nicht um eine Frage, die von einer Universität oder einer Schule zu lösen ist.
Erkan Gürsoy schlug vor, zukünftig HSU-Konzepte inklusiv auszurichten, die z. B. einsprachig Deutsch aufgewachsene SchülerInnen berücksichtigen. Zudem sei es zielführend, einen Lernbereich in der Grundschullehramtsausbildung einzurichten, mit dem Ziel der Professionalisierung von Grundschullehrkräften, die z. B. neben Deutsch und Mathematik auch DaZ und Herkunftssprachen wie Arabisch, Kurdisch, Türkisch unterrichten.
María José Sánchez Oroquieta stellte klar, dass der HSU aus Verwaltungs- bzw. Praxisperspektive keinesfalls ein Auslaufmodell sei. Dies habe weniger damit zu tun, dass es aktuell keine Alternative dazu gibt, sondern vielmehr zeigten die Jahrzehnte, in denen HSU, oder Vorzeigeprogramme wie KOALA, angeboten wird, durchaus Erfolge: Viele SchülerInnen, die den Unterricht regelmäßig besucht haben, haben mit Erfolg eine Stärkung ihrer Identität und eine gute Bildung in ihrer Herkunftssprache erhalten und später ihre Herkunftssprache im Beruf einsetzen können. Dies sei auch ein Verdienst sowohl der Eltern, die dafür gesorgt haben, dass die SchülerInnen den Unterricht besuchen als auch von hunderten von Lehrkräften, die den Unterricht unter z. T. ungünstigen Bedingungen erteilt haben.
Abschließend äußerten die Diskutantinnen ihre gegenseitigen Wünsche.
Aus Projektperspektive wünscht sich Anna Fabian didaktische Modelle sowie weitere Fortbildungen, die auch eine stärkere Vernetzung der Lehrkräfte (HSU- und Fremdsprachenunterricht) bzw. gemeinsames Lernen berücksichtigen. María José Sánchez Oroquieta wünscht sich zukünftig ein inklusives Modell, eine Didaktik der Mehrsprachigkeit, sowie eine Integration der HSU-Lehrkräfte auf Augenhöhe in den Schulen. Grit Mehlhorn wünscht sich mehr praxisorientierte Forschung und plädiert an Forschende, sich in die Praxis zu begeben und Expertise aus der Praxis aufzunehmen, um Transfer in beide Richtungen zu ermöglichen. Fortbildungen müssen auf Augenhöhe und keine reine Input-Veranstaltungen sein, sondern den Austausch im Blick haben. So würde man Fortbildungen für HSU-Lehrkräfte attraktiver machen und den Austausch unter Lehrkräften ermöglichen, was eine Bestärkung eigener Lehrpraktiken bewirken könnte. Die Aufgabe der Bildungsinstitutionen wäre es, noch stärker wissenschaftliche Expertise bei der Beratung von Personen mit Entscheidungsgewalt, bei der Erstellung von Curricula, oder bei der Konzipierung von Prüfungen und Lehrwerken einzubeziehen. Dies ist z. B. im „Rahmenplan Herkunftssprachenunterricht” von Rheinland-Pfalz gelungen, wo Prof. Dr. Inci Dirim und Prof. Dr. Hans H. Reich beratend mitgewirkt haben.
Referenzen
Hufeisen, B. (2011). Gesamtsprachencurriculum: Weitere Überlegungen zu einem prototypischen Modell. In R. S. Baur & B. Hufeisen (Hrsg.), „Vieles ist sehr ähnlich“: Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe (S. 265–282). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Volltext]
Küppers, A., & Schroeder, C. (2017). Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist und warum es sinnvoll wäre, Türkisch zu einer modernen Fremdsprache auszubauen Eine sprachenpolitische Streitschrift. Fremdsprachen Lehren und Lernen, 46(1), 56–71. [Volltext]
Reich, H. (2016). Auswirkungen unterschiedlicher Sprachförderkonzepte auf die Fähigkeiten des Schreibens in zwei Sprachen. In P. Rosenberg & C. Schroeder (Hrsg.), Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit (S. 177–206). https://doi.org/10.1515/9783110401578-011
Ansprechperson im Netzwerk Herkunftssprachlicher Unterricht:
Dr. Till Woerfel